Depersonalisierung (Kunst)

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Als Depersonalisierung werden Tendenzen in der Kunst, Literatur und Theater bezeichnet, die angesichts der Verunsicherung über die zentrale Stellung des Subjekts um 1900 radikal vom Individuellen abstrahieren, das Individuum als bloßes Objekt erscheinen lassen, es aggressiv deformieren oder parodieren, bei der Personendarstellung nur das Typische hervorheben, anthropomorphe Figuren geometrisch, technisch-mechanisch verformen oder aus Objekten wie Maschinenteilen konstruieren.

Arcimboldo: Der Bibliothekar (1562), Schloss Skokloster

Frühe Beispiele

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Deformierte Körperformen und hyperbolische Verzerrungen waren jahrtausendelang in der Kunst nicht nur der außereuropäischen Völker dominant. Die aus frühzeitlichen Mythologien und der spätantiken und mittelalterlichen Kunst bekannte Groteske kann als eine Form der Depersonalisierung angesehen werden, weil sie Körperformen bis ins Phantastische übertreibt. Nach Michail Bachtin ist die Groteske in Literatur und bildender Kunst nicht nur eine in satirischer Absicht benutzte Hyperbel, sondern signalisiert eine grundlegende Ambivalenz: Einerseits erkennen wir in ihr die Realität wieder, andererseits empfinden wir moralische Befriedigung, indem wir das Dargestellte verhöhnen. Zugleich ist der groteske Körper keine individuelle Einheit, sondern nur ein Stadium eines dauernden Prozesses der Verwandlung und Erneuerung: Er ist entgrenzt, zerstückelt und wieder zusammengesetzt (wie die Chimäre mit ihrem Mischkörper), oder er besteht aus „Einbrüchen und Erhebungen“, zeigt sein Innenleben und seine Öffnungen.[1]

Eine radikalere Depersonalisierung findet sich in der manieristischen Kunst in den aus Pflanzen oder anderen Objekten zusammengesetzten Porträts Giuseppe Arcimboldos oder bei Jacopo da Pontormo, der Äste in Form von Frauenkörpern zeichnet. Darin spiegelt sich die Vorstellung der engen Verbindung der Elemente der Natur miteinander und der Einheit des Menschen mit dem Kosmos, der Tier- und Pflanzenwelt.[2]

Hingegen entwerfen die Tropen der petrarkistisch-manieristischen Lyrik bei der Beschreibung vor allem des weiblichen Körpers einen virtuellen Kunstkörper, der das natürliche Original übertreffen soll. Durch die Überbetonung der Künstlichkeit dieser Kunstkörper, die in der stilistischen Hyperbolik der Körpergedichte Hoffmannswaldaus einen Höhepunkt erreicht, wird die Naturfeindschaft der modernen Kunst antizipiert. Depersonalisierung und Denaturierung des weiblichen Körpers mediatisieren ihn vollständig und machen ihn zur „Schrift“.[3]

Moderne und Avantgarde

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Luigi Russolo: Plastische Synthese der Bewegungen einer Frau (1912), Musée de Grenoble

Viele Vertreter der Moderne zielen in ihren Werken auf die Verdrängung oder Eliminierung von Affekten. Dazu bedienen sie sich verschiedener Techniken der Depersonalisierung.[4] Auch Naturfeindlichkeit zeigt sich in der entschiedenen Tendenz zur Depersonalisierung in der Kunst und Literatur des Expressionismus und Futurismus, des synthetischen Kubismus, Dadaismus und anderer Strömungen der Avantgarde und des Primitivismus, die sich vom Naturalismus und Impressionismus abwenden.

Während die vorimpressionistische realistische und naturalistische Kunst bemüht war, die Subjektivität des Künstlers und seine Bearbeitungsweise hinter der dargestellten Person zurücktreten zu lassen, hebt die Deformationsäthetik des Kubismus und Expressionismus durch die Dekomposition und Depersonalisierung der Objekte paradoxerweise die Persönlichkeit und Subjektivität des beliebig über die Körper verfügenden allmächtigen Künstlers hervor.[5] Ähnliches gilt für den Surrealismus, der Menschen aus ihrem gewohnten Kontext reißt, zerlegt und als fremde Objekte erscheinen lässt. Ein Beispiel dafür ist Salvador Dalís programmatisches Bild Metamorphose des Narziss (1937), in dem der sich in einem See spiegelnde Narziss durch anamorphotische Verwandlung als steinerne Hand und sein Kopf als Ei erscheint.[6] In anderen Fällen kann die Depersonalisierung jedoch den Zugang zum Innenleben einer dargestellten konkreten Person verschließen. Schließlich findet sich die Tendenz zur Entgrenzung der geschlossenen Körperformen wie etwa in Marcel Duchamps Akt, eine Treppe herabsteigend Nr. 2 (2012).

Zerschossene Geschützbatterie von Wyndham Lewis (1919). Das Bild zeigt außer drei überwiegend indifferent blickenden Offizieren eine Gruppe marionettenhaft verrenkter britischer Soldaten (nur an der charakteristischen Form der Helme erkennbar) auf einem von Granateinschlägen durchpflügten, scheinbar schwankenden Boden.

Depersonalisierung ist auch ein Thema von Kunstwerken, die dissoziative Wahrnehmungsstörungen als Folge von Drogenerlebnissen oder Erfahrungen von psychisch Kranken visualisieren. Viele Kunstexperimente unter Drogeneinfluss entstanden in den 1960er und 1970er Jahren. In neuerer Zeit bekannt wurden die experimentellen Arbeiten von Bryan Lewis Saunders (* 1969).[7][8]

Nō-Maske: Je nach Neigung der Maske ergibt sich ein anderer Gesichtsausdruck

Besonders für das plurimediale Theater der Avantgarden erwies sich der Körper des Schauspielers, der im Vergleich zum Dramentext oder zur Ausstattung immer wichtiger wurde, als ein problematisches Medium. Der Schauspieler arbeitet anders als der Maler oder Schriftsteller nicht mit abgelöstem Material, sondern mit seinem Körper, was den intendierten Ausdruck überlagert (Multicodierung). Daraus ergab sich der Zwang zur phänomenologischen Verfremdung, zur Reduktion, Abstraktion oder Maskierung wie im -Spiel oder Kabuki (dort durch maskenhaft aufgetragene Schminke). Der Schauspieler sollte zum perfekten Zeichenträger, zum reinen Medium werden. So trug die Depersonalisierung zur Entwicklung des Theaters zur plurimedialen Kunst bei und befreite es von inhumanen Kontrollzwängen.

Erste Impulse kamen um 1890 von dem belgischen Dramatiker Maurice Maeterlinck. Beginnend mit Alfred Jarrys König Ubu wurde der Schauspieler radikal depersonalisiert, sein phänomenaler Körper wurde ersetzt durch eine artifizielle, rein semiotische Figur. Damit wurde er zum anthropomorphen Zeichenträger und der Zuschauer durch Abstraktion und Reduktion bei Bühnenbild und Schauspieler zum imaginierenden Mitschöpfer.[9] In vielen expressionistischen Dramen oder Brechts Lehrstücken wird die Depersonalisierung durch Vermeidung von Individualnamen unterstützt („Der Erste“, „Zweite“, „Dritte“ usw.). Auch die Verwesungsmetaphern in der Lyrik Gottfried Benns oder in Reinhard Goerings Tragödie Seeschlacht sind ein Zeichen expressionistischer Depersonalisierung.

Forciert wird die Depersonalisierung auch durch eine stilisierte Stimmführung und Technisierung im Theater Max Reinhardts oder durch Techniken wie die Biomechanik Wsewolod Meyerholds, die durch genau definierte Bewegungen und Haltungen die zu zeigenden Emotionen initiieren sollten. Auch der Tanz der 1920er Jahre wird durch geometrische, maschinenhafte Bewegungen geprägt (z. B. Oskar Schlemmers Triadisches Ballett).

Beispiele für die Beschreibung von Depersonalisierungsprozessen in der Literatur sind die Erzählung Die Verwandlung von Franz Kafka (1912), teilweise auch der Roman Der Ekel von Jean-Paul Sartre[10] oder die Phantasie des kleinen Angestellten Luís von der Dekonstruktion und Zerstückelung seiner Geliebten im neorealistischen Roman Angst von Graciliano Ramos (1936). In neuerer Zeit steigt die Zahl der Beschreibungen von Depersonalisationserlebnissen aufgrund von Unfreiheit oder Verantwortungsdruck im Arbeitsprozess, z. B. in Das Glück in glücksfernen Zeiten (2009) von Wilhelm Genazino.[11]

In der Literaturwissenschaft und Literaturkritik meint Depersonalisierung aber auch das Bestreben des Autors oder Literaturkritikers, die Aufmerksamkeit des Lesers von der Persönlichkeit des Urhebers wegzulenken auf den poetischen Text, die Tätigkeit des Schreibens oder die literarische Tradition, in der der Autor steht. Oft schaffen moderne Autoren eine Persona oder Maske, die die Persönlichkeit und die Affekte des Autors auslöschen soll.[12] Explizit verlangte T. S. Eliot: „Der Fortschritt eines Dichters bedeutet, andauernd sich selbst zu opfern, seine eigene Persönlichkeit auszulöschen.“[13] Als Beispiele können Eliots episches Gedicht The Waste Land (1922) oder sein Frühwerk The Love Song of J. Alfred Prufrock dienen.

In der Musik sind Depersonalisierungs- und Denaturalisierungstendenzen schwieriger zu beschreiben, da Musik ohnehin abstrakter und konstruierter ist als eine Kunst oder Literatur, welche die Wirklichkeit beschreiben will. In der Musik äußert sich die Tendenz beispielsweise in der Verdrängung der Emotion mittels Durchmathematisierung der Komposition (z. B. Zwölftonmusik), in der Ablehnung einer melodischen, als „natürlich“ empfundenen Stimmführung (z. B. durch extreme Intervalle wie bei Arnold Schönberg), durch reine Geräuschkunst oder Betonung des Geräuschhaften wie bei den Futuristen Luigi Russolo[14] und Filippo Tommaso Marinetti oder durch komplizierte, „konstruierte“, maschinenartige Polyrhythmik wie in Arthur Honeggers Pacific 231, in der die Fahrt mit einer Dampflokomotive evoziert wird.

Gesellschaftlicher Hintergrund

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William Girometti: Illusorische Argumentation (1974). Das Bild zeigt den Einfluss von Archimboldo.

James Noyes hält Strömungen wie den italienischen Futurismus für eine ikonoklastische Bewegung, die klassische Idole auf symbolischem Wege zerstört.[15] Auch Surrealisten wie Girometti dekonstruierten die alten Vorbilder.

In der Verdinglichung des Dargestellten und im Vorherrschen des Konstruierten drücken sich jedoch eine allgemeine Tendenz zur Objektivierung, Manipulation und Entindividualisierung der menschlichen Umgangsformen aus, die als typisch für die Industriegesellschaft, für die wachsenden Großstädte und insbesondere für den Ersten Weltkrieg gilt und alle Formen des populären sentimentalen Realismus oder Naturalismus zerstörte. In dieser Tendenz ist auch schon die Neue Sachlichkeit als ein Versuch der Objektivierung aller Lebensbereiche angelegt, der die expressionistischen Übertreibungen zurücknimmt. Doch auch diese Gestaltungsform für fabrikmäßig produzierte Objekte, die nicht zum Besitz individueller Personen, sondern zur massenhaften Nutzung durch die Öffentlichkeit bestimmt sind, zeigt, dass die Industriegesellschaft den Individuen wenig Raum zur Selbstverwirklichung und -erfahrung bietet.

Mit zunehmender Individualisierung der Kultur und Gesellschaft steigt neuerdings der Anteil an Depersonalisationsstörungen an, was sich auch im Kunst- und Literaturgeschehen abbildet.[16]

Die Depersonalisierungs- und Denaturalisierungstendenzen der Avantgarde wurden vielfach von der konservativen, religiösen und rechtsgerichteten Kritik als Verlust an menschlicher Substanz oder an Gemütswerten kritisiert, so (allerdings mit ambivalenter Haltung) von José Ortega y Gasset,[17] der vor allem die dem Surrealismus nahestehende Literatur der Generación del 27 vor Augen hatte, von den Nationalsozialisten im Rahmen der Aktionen gegen Entartete Kunst, aber auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg von Hans Sedlmayr[18] und anderen.

Ortegas zielt mit seiner Kritik allerdings auf kein konkretes Kunstwerk und definiert auch den Begriff der Depersonalisierung nicht genau. Er bezieht ihn auf die Tendenz des gesamten Modernismus, sich immer weiter vom menschlichen Leben zu entfernen. Anders als die traditionelle Kunst gefalle die depersonalisierte Kunst der Mehrheit der Bevölkerung überhaupt nicht. Die Masse verstehe das neuartige, anti-populäre, depersonalisierte Kunstwerk im Unterschied zur traditionellen Kunst nicht („no la entiende“), und zwar weniger wegen der fehlenden oder verzerrten ästhetischen Details, sondern weil es nicht ihr Leben reflektiere; die Minderheit hingegen verstehe es sehr wohl. Diese Art von Kunst strebe nicht mehr nach breiter Verständlichkeit. Allerdings erklärt Ortega die Ursachen dieser sozialen Spaltung nicht.

  • Anke Bosse: Abstraktion der Bühne und Depersonalisierung. In: Primus-Heinz Kucher: Verdrängte Moderne – vergessene Avantgarde: Diskurskonstellationen zwischen Literatur, Theater, Kunst und Musik in Österreich 1918–1938. Göttingen 2015, S. 65–78.
  • Richard Hamann, Jost Hermand: Expressionismus (=Epochen deutscher Kultur von 1870 bis zur Gegenwart. Band 5), Frankfurt 1977, S. 123 ff.

Einzelnachweise

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  1. Michail Bachtin: Die groteske Körperkonzeption und ihre Quellen, in: Ders.: Rabelais und seine Welt: Volkskultur und Gegenkultur. Frankfurt 1995, S. 345 ff., 359 f.
  2. Pavel Preiss: Zum Anthropomorphismus in der manieristischen Kunst. Dissertation, Universität Brünn 1964 online
  3. Torsten Voss: Die Vernichtung des Körpers durch die Geburt des Kunstwerks in der petrarkistisch-manieristischen Lyrik. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Bd. 83 (2009) 1, S. 103–127.
  4. Gregory Castle: The Literary Theory Handbook. Wiley-Blackwell 2013, S. 19.
  5. Man vergleiche etwa Pablo Picassos Les Demoiselles d’Avignon (1912/13).
  6. Freund, Dalí and the metamorphosis of Narcissus auf freud.org
  7. Bryan Lewis-Saunders: Autoportraits sous drogues: Une sélection. 2013.
  8. James Manning: Portrait of the artist as a walking drug experiment auf theage.com.au, 29. August 2012.
  9. Anke Bosse: Depersonalisierung des Schauspielers Zentrales Movens eines plurimedialen Theaters in Moderne und Avantgarden. In: Etudes Germaniques Nr. 264, 2011/4, S. 875–890.
  10. Mascha Elbers: Gefangen in der Unwirklichkeit auf spektrum.de, 24. Juli 2018
  11. Cora Roc: „Wir spüren nämlich nichts mehr, werte Dame“ – (Selbst-)Entfremdung bei Melle, Genazino und Von Steinaecker, in Germanica 55 (2014).
  12. Gregory Castle: The Literary Theory Handbook. Wiley-Blackwell 2013, S. 19 f.
  13. T. S. Eliot; Tradition and the Individual Talent (1919), zit. nach Katharina Maier: T. S. Eliot, in: Die großen Literaten der Welt: Amerika und Asien. Wiesbaden 2007.
  14. Luigi Rossolo: Die Kunst der Geräusche. Schott Music, Mainz 2000
  15. James Noyes: The Politics of Iconoclasm: Religion, Violence and the Cultureige of Image-Breaking in Christianity and Islam. London 2013.
  16. Mascha Elbers: Gefangen in der Unwirklichkeit auf spektrum.de, 24. Juli 2018
  17. J. Ortega y Gasset: La deshumanización del arte. Ediciones Revista de Occidente, Madrid 1925, Neuausgaben 1991, 2005; dt. Die Vertreibung des Menschen aus der Kunst, München 1964; engl. The dehumanization of art, Princeton UP, 2019.
  18. Verlust der Mitte, Salzburg 1948.